Als Dominik Spest – der Autor des 6-Minuten-Erfolgsjournals – in einem anderen Kontext die Frage gestellt hat: „Worum geht es in einer Grabrede?“ habe ich einige Gedankenschleifen gebraucht, bis mir klar wurde – auch das wäre ein Schritt im Leben mit meinen Sternenkindern gewesen. Und die Meinungen der Psychologie, Neurowissenschaft und des Daoismus haben mich bestärkt.
Worum geht es bei der Reihe Blickwinkel bei Sternenkindern? Auf ein und dieselbe Frage, unterschiedlichste Antworten und einzigartige Erfahrungen.
Blickwinkel von Tanja Wirnitzer. Ich entschied mich nicht für oder gegen eine Grabrede. Ich wusste nichts davon. Ziemlich sicher hätte ich keine gehalten, vielleicht hätte ich eine verfasst, wahrscheinlich nicht. Warum es trotzdem unfassbar wichtig gewesen wäre mich selbst dagegen entschieden zu haben – darum geht es bei diesem Blickwinkel.
Inhaltsverzeichnis
Wünscht du dir A oder B für Elternpaare?
Von zwei Elternpaaren stirbt jeweils das Kind.
Elternpaar A weiß nicht, dass Abschied im Krankenhaus oder eine Grabrede möglich gewesen wäre. Jahre später erfährt es davon und empfindet Schmerz, Leere, manchmal Schuld – obwohl objektiv nichts „falsch“ war.
Elternpaar B weiß von dieser Möglichkeit, entscheidet sich bewusst dagegen, weil es sich in diesem Moment nicht richtig anfühlt. Auch Jahre später kann Trauer da sein – aber keine offene Rechnung.
Die Entscheidung trägt.
Wie kam es zu diesem Blickwinkel?
Als Dominik Spest – der Autor des 6-Minuten-Erfolgsjournals in einem anderen Kontext die Frage gestellt hat: „Worum geht es in einer Grabrede?“ habe ich einige Gedankenschleifen gebraucht, bis mir klar wurde – auch das wäre ein Schritt im Leben mit Sternenkinder gewesen.
Ob ich die Grabrede für meine Sternenkinder nun vorgetragen hätte oder nicht, ob ich die Grabrede verfasst hätte und wen anders vortragen hätte lassen oder nicht, ob ich die Grabrede nur verfasst hätte oder nicht einmal das, darum geht es bei Entscheidungen nicht.
Es geht um Selbstwirksamkeit, Ernsthaftigkeit, Ordnung und Balance. Um die Würde. All das sind Voraussetzungen für mentale Gesundheit und eine Trauer als Liebe.
Kurz gesagt: Bewusste Entscheidung gibt Erfahrung Bedeutung – selbst dann, wenn die Entscheidung ein Nein ist.
Was sagt die Psychologie?
Wenn eine Möglichkeit unbekannt ist, kann sie innerlich nicht bewertet, betrauert oder integriert werden. Erst Wissen erzeugt einen inneren Entscheidungsraum. In dem Moment, in dem du weißt: Eine Grabrede für Sternenkinder wäre möglich gewesen, entsteht Handlungsmacht.
Selbst wenn du dich dagegen entscheidest, passiert etwas Wesentliches: Du wirst von einer passiv Betroffenen zu einer aktiv gestaltenden Person.
Psychologisch nennt sich das Agency. Agency ist einer der stärksten Schutzfaktoren in Trauerprozessen. Sie reduziert Ohnmacht, Schuldfantasien und spätere Grübelspiralen („Hätte ich doch …“), weil das Gehirn einen abgeschlossenen Entscheidungsakt speichern kann.
Was sagt die Neurowissenschaft?
Nicht-Wissen bleibt vor allem im limbischen System hängen – dort, wo Unklarheit, Stress und offene Schleifen verarbeitet werden.
Bewusste Entscheidungen aktivieren zusätzlich den präfrontalen Cortex. Dieser Bereich ordnet, integriert und „schließt Akten“.
Ein bewusstes Nein erzeugt neurologisch Kohärenz. Ein verpasstes, nie bekanntes Ja bleibt hingegen als unspezifisches Unbehagen oder spätes Nachtrauern gespeichert, sobald die Information nachträglich auftaucht.
Wenn das Wissen später kommt – muss dein System neu sortieren.
Warum ist es wichtig, davon gewusst zu haben?
Weil das Gehirn Sinn nicht aus Handlung, sondern aus gewählter Handlung erzeugt.
Ob du eine Grabrede gehalten hättest, ist sekundär. Entscheidend ist: Ich wusste davon. Ich habe abgewogen. Ich habe entschieden.
Das schafft innere Würde – unabhängig vom Ergebnis.
Was sagt der Daoismus? Wu Wei?
Im Daoismus ist Handeln nicht das Ziel, sondern stimmiges Sein im Moment. Wu Wei heißt nicht „nichts tun“, sondern „nicht gegen das Eigene handeln“. Nicht-Wissen ist wie ein Fluss ohne Ufer.
Bewusstes Entscheiden – auch gegen eine Möglichkeit – gibt dem Fluss Form. Du hast nicht gegen das Dao gehandelt, sondern im jeweiligen Moment mit dem Wissen, das da war.
Späteres Wissen ändert nicht die damalige Stimmigkeit, aber es schenkt heute neue Klarheit.
Marion teilt auch auf viele andere Fragen ihren Blickwinkel und erzeugt Lachfalten, die Denkerpose und Erkenntnisse gleichermaßen. Ich freue mich auf unseren weiteren Austausch.
Was sich hinter der Idee für diese Skizze als Titelbild verbirgt?
Meine erste Antwort auf die Frage: „Worum geht es in einer Grabrede?“, war: Für Sternenkinder ist oft keine Grabrede möglich, weil sie ein zu kurzes Leben hatten.
Doch dann war direkt klar: Aber worum geht es denn in einer Grabrede? Um das Leben? Die Erfolge?
Es geht um Liebe. Um die Beziehung zu dem verstorbenen Menschen.
Du bist herzlich eingeladen deinen Blickwinkel zu teilen
Welche Erfahrungen hast du mit Grabreden gemacht? Welchen Blickwinkel teilst du oder hast du einen anderen?
Schreibe mir gerne an tanja@sternenkinder.org
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