Was einfache Liebesgeschichten zwischen den Zeilen über das Weiterleben sagen – und warum sie gerade in Trauerphasen heilsam sind.
Mich hat es sehr gewundert, warum ich mich nach dem Tod von meinen Sternenkindern lange nur noch mit Liebesgeschichten ablenken konnte. Ob ich sie gelesen, gehört oder gesehen habe, hing von vielem ab – aber wenn, dann waren es immer Liebesgeschichten.
Sie sind simpel: Boy meets Girl – something gets in the way – love wins. Mir war das fast peinlich. Bis ich ein Interview mit einer Autorin aus genau diesem Genre hörte.
Worum geht es bei der Reihe Blickwinkel bei Sternenkindern? Auf ein und dieselbe Frage, unterschiedlichste Antworten und einzigartige Erfahrungen. Damit sich jede Person ihre ganz eigene Meinung bildet und den eigenen Weg findet.
Blickwinkel von Tanja Wirnitzer. Die Blickwinkelreihe heißt: Liebesgeschichten im Leben mit Sternenkindern. Bei dem Titel könnte ich Liebesbriefe und Liebesgeschichten mit und an meine Sternenkinder schreiben, aber mir geht es um das Genre Liebe im Film und Büchern, nämlich darum: Warum ich dem dem Tod meiner Sternenkinder mit Liebesgeschichten begegne?
Inhaltsverzeichnis
Wie kam es zum Thema dieses Blickwinkels?
In meiner Sternenkindermappe – dem Buch – geht es darum, was Eltern und Mitfühlende von Sternenkindern tun können. Ich selbst habe über eine sehr lange Zeit hinweg immer wieder Liebesromane gelesen, Liebesfilme geschaut und – wie ich finde – ganz besondere Liebesserien entdeckt: sogenannte C-Dramen (wie K-Dramen, nur spielt das Setting nicht in Korea, sondern in China).
Als ich dazu recherchierte, wusste ich: Das muss in die Sternenkindermappe mit hinein, weil es auch für andere ein hilfreicher Schritt sein kann.
Als ich mich vor einer Woche mit einer besonderen Freundin und ebenfalls Mutter eines Sternenkindes darüber austauschte, fand sie meine Beobachtungen so spannend, dass daraus dieser Blickwinkel-Artikel entstand.
Fakt oder Fiktion: Das Hirn verwendet beides
Wenn Gespräche, Gedanken, Gefühle zu viel sind. Wenn selbst Trost anderer zu laut ist. Inmitten dieses Schmerzes, der keine Sprache kennt, kann ausgerechnet etwas ganz Unscheinbares einen Faden zurück in die Welt spannen: Eine Liebesgeschichte.
Mir war es fast peinlich. Wie kann ausgerechnet das Leichte halten, wenn alles andere zerbricht? Und doch ist genau das ihr Zauber: Sie verlangt nichts. Sie bewertet nichts. Sie ist einfach da. Und manchmal ist das genau das, was wir brauchen.
Zielgruppe vs. die wahren Lesenden von Liebesgeschichten
Ich dachte lange, ich würde mich mit Liebesgeschichten einfach nur ablenken. Sie sind simpel: Boy meets Girl – something gets in the way – love wins. Mir war das fast peinlich. Bis ich ein Interview mit einer Autorin aus genau diesem Genre hörte.
Die Hauptfiguren in ihren Büchern sind meist Ende zwanzig, leben in einer britischen oder amerikanischen Großstadt, arbeiten als Praktikantinnen oder Assistentinnen in einer Kanzlei oder Bank. Der Love Interest ist ein erfolgreicher Mann, emotional unnahbar – bis er sich, natürlich, ausgerechnet in sie verliebt.
Im Interview erzählte die Autorin, wie sie ihre Zielgruppe kennenlernte – und selbst überrascht war. Sie hatte gedacht, ihre Leserinnen seien jung, lebensfroh und auf der Suche nach der großen Liebe. In Wirklichkeit waren sie meist um die fünfzig, arbeiteten in sozialen Einrichtungen mit Personalmangel, oft auf Palliativstationen oder im Hospiz. Viele von ihnen hatten ihre große Liebe längst gefunden – darum ging es beim Lesen nicht.
Es ging um etwas anderes: eine schnelle Kraftquelle, zwischen zwei Schichten, zwischen Tür und Angel. Ein kurzer Moment des Durchatmens. Eine kleine Rettung im Alltag, der täglich von Abschieden geprägt ist.
Ich dachte, mit den Liebesgeschichten würde ich der Realität entfliehen. Aber eigentlich – sind sie eine Brücke zurück. Zurück ins Leben lieben.
Ich begann mich mehr damit zu beschäftigen:
Das neurobiologische Fundament: Sicherheit durch Struktur
Unser Nervensystem ist darauf ausgelegt, Muster zu erkennen. Sicherheit bedeutet für das Gehirn: Vorhersehbarkeit, Wiederholung, klare Wendepunkte. Eine klassische Liebesgeschichte folgt einem genau solchen Muster. Sie beginnt in Ruhe, entfaltet eine Krise, verspricht Versöhnung – und schenkt ein Happy End. Diese Struktur ist nicht banal. Sie ist heilsam.
In Zeiten akuter Trauer ist unser Gehirn im Alarmmodus. Das Stresssystem feuert, das limbische System verarbeitet Verlust, Schmerz, Angst. Geschichten mit vorhersehbarem Verlauf entlasten unser überfordertes System. Sie helfen dem Gehirn, von Überleben auf Verbindung umzuschalten. Der präfrontale Kortex – zuständig für Planen, Empathie, Reflexion – kann wieder aktiv werden. Langsam, vorsichtig.
Eine gute Geschichte spricht nicht nur den Verstand an. Sie erreicht den Körper. Der Herzschlag verlangsamt sich, die Atmung wird ruhiger. Oxytocin wird freigesetzt – das Bindungshormon. In genau dem Moment, in dem sich die Welt am leersten anfühlt, entsteht Beziehung. Nicht zu realen Menschen – sondern zur Geschichte. Doch unser Gehirn unterscheidet da kaum. Es zählt das Gefühl.
Was Liebesgeschichten zwischen den Zeilen sagen
Zwischen den Worten liegt oft mehr als im Text selbst: Die Erlaubnis, zu fühlen, ohne zu zerbrechen. Die Einladung, wieder zu hoffen, ohne Schuld. Das Wissen, dass Liebe bleibt, auch wenn Menschen gehen. Liebesgeschichten erinnern daran, dass Nähe möglich ist – zart, behutsam, ohne Gefahr. Wer eine solche Geschichte liest oder sieht, begegnet nicht der Realität, sondern einer Möglichkeit. Und diese Möglichkeit kann in dunklen Stunden Licht spenden.
Diese Geschichten fordern keine Entscheidung. Kein Gespräch. Kein Aushalten. Sie lassen sich passiv erleben – und genau das ist ihre Stärke. In der Sprachlosigkeit der Trauer sind sie manchmal das Einzige, das gehört wird.
Ein globales Phänomen mit lokalen Seelenfarben
Liebesgeschichten gibt es in allen Kulturen – doch sie erzählen Liebe auf unterschiedliche Weise. Und genau darin liegt ihre Kraft. Wer sich in Trauerphasen auf Geschichten einlässt, findet oft in anderen Kulturkreisen besondere Resonanz. Besonders in asiatischen Erzähltraditionen – etwa in koreanischen oder chinesischen Serien – ist die Liebe nicht laut. Sie ist leise. Voller Blickkontakt, zarter Gesten, tiefem Respekt. Das Tempo ist langsam. Die Beziehung entwickelt sich still, mit viel Raum für Zweifel, Entwicklung und inneres Wachsen.
Lateinamerikanische Geschichten betonen dagegen oft das Emotionale: Hitze, Leidenschaft, Drama. Sie spiegeln eine Form von Liebe, die im Außen tobt, aber im Inneren Halt geben kann. Türkische Erzählungen wiederum sind geprägt von kulturellen Gegensätzen, Tradition und modernem Streben – eine Dynamik, die viele Menschen mit inneren Brüchen berührt.
Und auch im westlichen Raum gibt es Variationen: Amerikanische oder britische Liebesgeschichten folgen häufig klaren Mustern, die Selbstverwirklichung und Liebe in Einklang bringen. Sie erzählen vom Mut, sich zu öffnen – und geben Hoffnung, dass Verletzlichkeit nicht in Verlust, sondern in Verbindung münden kann.
Die stille Psychologie des Happy Ends
Ein Happy End ist nicht naiv. Es ist eine Form von innerer Regulation. In einer Welt, die gerade zusammengebrochen ist, zeigt es: Nicht alles endet im Schmerz. Es erlaubt, an Zukunft zu glauben, auch wenn man gerade die Vergangenheit betrauert. Und vor allem: Es erlaubt, sich wieder auf etwas einzulassen. Emotional. Körperlich. Gedanklich.
Diese Geschichten überfordern nicht – sie halten. Sie führen sanft durch emotionale Prozesse, die im echten Leben kaum auszuhalten sind. Sie simulieren Sicherheit – und genau dadurch wird sie fühlbar. In der Polyvagal-Theorie spricht man davon, dass unser Nervensystem soziale Signale braucht, um aus Angst in Verbindung zu wechseln. Liebesgeschichten können genau solche Signale senden. Nonverbal. Zwischen den Zeilen.
Fühlen dürfen, ohne erklären zu müssen
Wer trauert, wird oft übersehen oder überfordert. Manchmal beides zugleich. Die Umwelt erwartet Sprache, Ausdruck, Fortschritt. Doch das Herz hat kein Zeitgefühl. Geschichten dagegen drängen nicht. Sie begleiten. Sie geben Raum. Wer liebt, fühlt – und wer trauert, liebt noch immer. Liebesgeschichten nehmen diese Liebe ernst. Sie wandeln sie nicht um, sie beschönigen nichts. Sie erinnern nur daran, dass Liebe weiterlebt. In anderen Formen. In anderen Bildern. In neuen Begegnungen.
Nicht alles muss echt sein, um echt zu berühren
Fiktion wird oft unterschätzt. Doch sie ist kein Gegensatz zur Wahrheit – sie ist eine ihrer Ausdrucksformen. Und manchmal ist das, was in einer Geschichte geschieht, realer als vieles, was im Alltag gesagt wird. Weil es trifft. Weil es hält. Weil es erlaubt, zu weinen, ohne sich erklären zu müssen. Weil es erinnert, dass wir fühlen dürfen, auch wenn wir verletzt sind.
Die Liebesgeschichte als leiser Widerstand gegen die Leere
In einer Welt, die durch Verlust grau geworden ist, kann eine Geschichte Farbe zurückbringen. Nicht grell. Nicht sofort. Aber leise. Schicht für Schicht. Sie zeigt: Da ist noch etwas in mir. Etwas, das reagiert. Das sich berühren lässt. Das vielleicht wieder fühlen will.
Es ist kein Verrat an der Trauer, wenn wir lächeln. Kein Aufgeben, wenn wir uns wieder sehnen. Und kein Fehler, wenn wir durch eine Geschichte Hoffnung empfinden. Es ist ein Zeichen: Wir leben. Und manchmal ist genau das genug.
Liebe über den Tod hinaus auf Neurobiologisch
Wenn ein Kind stirbt – selbst im Mutterleib, selbst ohne dass es je gelebt hat –, bleibt die Liebe bestehen. Trauer ist nicht nur Verlust oder Abschied. Trauer ist die Liebe zu Verstorbenen: Die Fortsetzung von Liebe. Ein Beziehungsband, das bestehen bleibt, auch wenn der Körper fehlt.
Und manchmal ist das, was wir „Trauer“ nennen, auch eine erste bewusste Begegnung mit dieser Liebe. Viele Eltern empfinden in der Trauer erstmals, wie tief diese Verbindung war – obwohl sie nie Zeit hatten, sie zu leben. Und doch war sie da: als Körpererinnerung, als Erwartung, als Anlage.
Unser Gehirn reduziert Beziehungen nicht nur auf das Sichtbare. Ich lebe seit vier Jahren China und habe Beziehung in Deutschland von der grünen Wiese neu erschaffen, andere vertieft und ja, natürlich sind auch andere gebrochen, aber das lag wohl weniger an der Distanz.
Bindung entsteht auch durch Vorstellung, durch Geschichten, durch die bloße Tatsache, dass jemand „mein“ ist – mein Kind, mein Bruder, mein Mensch.
Wenn eine Person erst im Erwachsenenalter erfährt, dass sie ein Geschwisterkind hatte, kann plötzlich eine tiefe emotionale Resonanz entstehen. Das limbische System – unser Gefühlsgedächtnis – reagiert auf diese Information nicht nur rational. Es erkennt ein Muster, ein „Das gehört zu mir“. Und: Es will Verbindung. Selbst wenn die andere Person längst nicht mehr lebt.
Auch wenn kein gemeinsames Leben stattfand – die Vorstellung davon reicht, um im Gehirn emotionale Netzwerke zu aktivieren: Was hätte sein können. Wie es hätte werden können. Diese „verpassten Möglichkeiten“ sind für unser Gehirn kein leerer Raum, sondern emotionale Realität.
In der Bindungstheorie spricht man davon, dass wir nicht nur zu Menschen eine Beziehung aufbauen – sondern auch zu unseren inneren Bildern von ihnen. Und diese inneren Bilder sind lebendig. Wir führen Gespräche mit Menschen, die nicht mehr da sind. Wir weinen um Beziehungen, die es nie gegeben hat. Und wir lieben Menschen, die wir nie in den Armen hielten.
Liebe ist kein Ort, sondern im Herz (Hirn)
Es braucht keine gemeinsame Zeit, um einer Person einen Platz im Herzen zu geben. Die Liebe selbst schafft diesen Ort. Sie gibt einem Kind Bedeutung, das nie an der Hand lebte oder viel zu kurz. Sie verbindet – über Raum, Zeit und Tod hinaus.
Liebe ist Erinnerung. Liebe ist Möglichkeit.
Und Liebe ist manchmal einfach nur: ein leiser Satz im Inneren, der sagt: Du bist ein Teil von mir (Quelle: Naturgesetz).
Warum Liebesgeschichten Eltern von Sternenkindern guttun
Wenn der Boden unter den Füßen bricht, ist alles zu viel: Gespräche, Gedanken, sogar das eigene Herz. In diesen Momenten schenken leichte Geschichten – ein Liebesroman, eine zarte Serie, ein K-Drama – etwas sehr Wertvolles:
•Ein Stück Halt in der Haltlosigkeit.
Die Geschichten tragen einen sanft hindurch. Oft weiß das Herz: Am Ende wird es gut. Vielleicht nicht wie früher – aber in der Geschichte ist da jemand, der trotzdem wieder lieben darf, der trotzdem weitergeht. Das tut gut, weil es daran erinnert: Vielleicht darf auch ich irgendwann wieder atmen.
•Gefühle dürfen leise sein.
In der Trauer sind viele Gefühle zu laut. Liebesgeschichten lassen sie weicher werden. Man darf weinen, ohne dass es einen zerreißt. Man darf lieben, ohne dass es wehtut. Man darf in eine andere Welt eintauchen – ohne sich selbst zu verlieren.
•Ein Raum für Sehnsucht.
Viele Eltern spüren: Die Liebe bleibt. Doch wohin damit? Geschichten, in denen Nähe, Verbundenheit und Trost ihren Platz haben, geben dieser Liebe Raum. Sie sagen nicht: „Vergiss.“ Sie sagen: „Du darfst fühlen.“
Warum ich Liebesgeschichten für Mitfühlende in der Sternenkindermappe aufführe
Wenn ein Mensch trauert, können Worte schwer sein – und gut gemeinte Ratschläge zu viel. Doch manchmal hilft ein kleines Geschenk: ein Roman, eine Serie, eine sanfte Geschichte. Warum?
•Weil Leichtigkeit nicht oberflächlich ist.
Liebesgeschichten werden oft unterschätzt. Doch sie erzählen vom Wiederaufstehen, vom Weiterleben, von der Hoffnung. Sie zeigen, dass nach der tiefsten Dunkelheit manchmal wieder ein Licht kommt – kein grelles, sondern ein leises.
•Weil sie nicht drängen, sondern begleiten.
Ein Buch drängt nicht. Es sagt nicht: „Du musst jetzt…“ Es liegt einfach da. Und wenn der Moment kommt, kann es Trost schenken – ganz leise, ganz unaufdringlich. Viele Menschen, die täglich mit Abschied zu tun haben, greifen genau deshalb zu diesen Geschichten.
•Weil sie Menschen erinnern, dass sie mehr sind als ihr Schmerz.
Auch in der tiefsten Trauer bleibt da etwas Menschliches: das Bedürfnis nach Nähe, Schönheit, ein bisschen Alltag. Sanfte Geschichten halten diese Seiten wach – und erinnern daran: Du bist nicht nur traurig. Du bist lebendig.
Was sich hinter Skizze als Titelbild verbirgt?
Weiß ich im Moment auch noch nicht, daher habe ich es noch nicht gezeichnet.
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