Wer kennt es nicht? Manche Ereignisse im Leben sind Wendepunkte zwischen zwei Lebensabschnitten. Die geplanten schaffen das nicht – wie von zu Hause auszuziehen, ein neuer Job oder am Frühlingsanfang seinen Lieblingsmenschen zu heiraten.
Ich spreche von unerwarteten Ereignissen: mitternächtlichen Anrufen, Unfällen, Krankheiten – dem Tod eines eigenen Kindes.
Worum geht es bei der Reihe Blickwinkel von Sternenkindern? Auf ein und dieselbe Frage, unterschiedlichste Antworten und einzigartige Erfahrungen.
Blickwinkel von Tanja Wirnitzer. Ich entschied mich ohne darüber nachzudenken für eine Obduktion. Eine andere Option käme für mich nicht in Frage. Warum? Mein Blickwinkel folgt nach dem Inhaltsverzeichnis.
Blickwinkel von Marion Glück. Für die Soldatin, Autorin und Verlegerin Marion Glück war die Antwort auf die Frage nach einer Obduktion wie bei mir auch sofort klar: Auf keinen Fall! Ihren Blickwinkel findest du hier.
Inhalt
Vorher Nachher
Als Miterlebende, als Eltern von Sternenkindern, teilt sich das Leben in ein Vorher und ein Seither: Ich bin noch genau dieselbe Person wie vor meinen Sternenkindern – und gleichzeitig so komplett anders. Menschen, die ich danach kennengelernt habe, beschreiben mich ganz anders – und treffen mich doch auch in meinem Kern.
Ich wusste gar nicht, dass mich das so verunsichert. Ich kann noch heute aus dem Kopf aufsagen, welche Erwartungshaltungen, welche Ansprüche, welche Ziele und Wünsche – ja, auch welche Freuden und welchen Spaß mich vorher bewegt hatten. Alles Steine und Säulen meiner Lebensbrücke.
Säulen, die einstürzen
Sie hat mir gefallen, ich wollte sie nicht ändern, nur entwickeln: gerader, länger, besser. Eine entscheidende Tragsäule wurde mir aber genommen. Eine, von der ich dachte, ich hätte sie unter Kontrolle – damit meine ich nicht den Tod. Von ihm war mir immer klar, dass ich ihn nicht kontrollieren kann – mir war nur nicht klar, wie früh und häufig er mein Leben bestimmt, ohne es zu nehmen.
Nein, ich meine die Säule Arbeit. Über meine berufliche Entwicklung habe ich mich identifiziert, und ich dachte, größtenteils könnte ich dies durch Leidenschaft und Fleiß kontrollieren – wenn ich mich richtig reinhänge, viele Zusatzaufgaben annehme, viele Angebote mache, mich integriere und versuche, Teil zu sein, dann klappt das – und damit habe ich es dann auch richtig gemacht.
Diese Säule in meinem Leben hat sich direkt nach meinem zweiten Sternenkind so drastisch verändert – um ehrlich zu sein: Sie wurde zerschlagen. Sodass mir jeglicher Halt fehlte. Halt, den ich im Leben mit meinen toten Kindern insbesondere zu dieser Zeit mehr als nötig gehabt hätte.
Zwischen den Erwartungen
Viele sagten, dass das doch jetzt wirklich nicht wichtig sei. Ich solle mir Zeit für mich nehmen – mir sei ja so etwas Schlimmes passiert, weil wir zwei Kinder während der Schwangerschaft verabschiedet haben. Mit jedem unserer drei Kinder an der Hand ging es weiter. Nur hieß es jetzt nicht mehr, ich solle mir Zeit für mich nehmen – sondern ich solle mir Zeit für meine Kinder (an der Hand – und je nach Person auch für alle meine Kinder) nehmen. Es ist doch die schönste Zeit im Leben.
Also wollte ich dem gerecht werden. Genauso, wie ich es vor meinen Sternenkindern hatte werden wollen. Und klar – was gibt es Wichtigeres als die Kinder? Ich kann ja froh sein, nicht arbeiten zu müssen. Vorher wurde ich dem allen nicht gerecht – oder es hat sich eben etwas verändert. Nun versuchte ich, das im Nachher herauszufinden.
Die Brücke als Identität
Erst rückblickend ist mir klar: Ich bin halt einfach immer ich. Für unsere Kommunikation gibt es in unserer Sprache ein Vorher und ein Nachher – um sich auszutauschen, um Worte und Gesten als Brücke zueinander zu finden. Aber doch nicht in meiner Identität. Das Vorher ist in mir, wie das Nachher – und wie auch das Später sein wird. Und nicht nur von mir selbst:
Die Erinnerungen und Einflüsse meiner Vorfahren – und natürlich die meiner Nachfahren: meiner Kinder, tot oder lebendig. Denn wer würde behaupten, Aristoteles wäre tot? Sein Konzept der Demokratie – sein Einfluss auf unser, auf mein Leben – die Demokratie ist dynamisch, in Habachtstellung – und so lebendig wie lange nicht. Im biologischen Sinne ist Aristoteles natürlich tot – aber mein Körper ist nochmal ein ganz anderes Thema. Ich rede vom Geist, vom Herz.
Energie, Kreis, Bewegung
Und das hat – wie ein Kreis, wie ein Ball – alles in sich. Bei einem Kreis geht es um Bewegung. Bewegung braucht Reibung. Und am Ende geht’s immer um: Leben in Liebe in Energie.
Wofür hast du Energie? Wenn dir Energie fehlt – was gibt dir Energie? Wenn du Energie hast – wofür? Und wieder von vorne 😉
Ich habe mich die letzten Jahre bei all meinen Entscheidungen und Reaktionen so stark vom »Wer war ich, wer bin ich jetzt, wer soll ich sein, wer will ich sein, wer muss ich sein« beeinflussen lassen – bis es letztens hieß: Wir müssen unerwartet schon viel früher mit drei Kindern an der Hand nach Deutschland. Und eine Freundin mich fragte: »Wie geht’s dir mit China, wenn du auf Deutschland blickst?«
Meine private Antwort fand ich durch ein Seelenspiegel-Frage-Antwort-Pingpong mit ihr – die sprengt nicht nur jede Caption, sondern auch jeden Blogartikel.
Die Brücke als Lösung
Aber in einem Satz – und einem übertragbaren Ergebnis – fand ich die Lösung im zirkulären Denken:
Ich bin einfach die Brücke. Die Brücke zwischen dem Vorher und dem Seither. Alle meine Kinder bleiben – und auf der Brücke bin ich Teil des Ganzen: Eine Brücke ist ein Bogen, ein Bogen ist Teil eines Kreises.
Wenn wir alle als Brücke betrachten, stehen wir für den Kreislauf des Lebens – und für das, was ihn ausmacht. Wie jede Form von Liebe, so ist auch die Trauer mehr Welle und Kreis als Treppenstufe oder Linie.
Konkret bedeutet das: Nicht vorher, nicht nachher – sondern immer mittendrin. Auf der Brücke. Mal in die eine Richtung, mal in die andere. Aber: Es muss nirgendwo hingehen. Es kann, darf, soll – aber: nichts muss. Trauer muss nicht verarbeitet, verändert, verbessert werden.
Gedanken ja – das geht auf einer Brücke wunderbar. Warum?
Was Brücken bedeuten
Was bedeuten Brücken?
Brücken verbinden, Brücken überwinden, Brücken vereinen, Brücken trösten.
Jedes deutsche Herz schreit nun natürlich: Obacht!
Brücken brechen auch ein!
Klar. Aber die älteste Stein-Segmentbogenbrücke der Welt ist 1.400 Jahre alt. Und warum bricht sie nicht ein?
Dank Unterstützung!
Die älteste Steinbrücke Chinas wurde von Li Chun – revolutionär für seine Zeit – mit flachen Segmentbögen und seitlichen Entlastungsbögen zur Druckverringerung und Wasserdurchlässigkeit konzipiert.
Wer steht bei Sternenkindern sinnbildlich für dieses komplexe statische Unterstützungskonzept einer Brücke?
Die Mitfühlenden!
Die Frage meiner Freundin lautete: »Wie blickst du mit deiner Vergangenheit in der Gegenwart auf deine Zukunft?« Darüber mal gscheid nachgedacht – und es macht Klick. Also: Es kann Klick machen. Muss natürlich nicht.
Die Kraft der Mitfühlenden
Mitfühlende halten so viel aus. Sie sind so stark. Und oft nehmen wir sie gar nicht wahr. Wir wissen gar nicht, inwiefern uns jemand als Brücke eigentlich wie unterstützt.
Bei einer Segmentbogenbrücke verteilt sich der Druck exakt auf jeden einzelnen Stein. Und so wertvoll jeder einzelne Stein ist – auch der, dem wir keine Beachtung schenken, den wir gar nicht sehen oder wahrnehmen – so gibt es Menschen in unserem Umfeld, in unserer Gesellschaft, die uns auf eine Art unterstützen, die wir gar nicht kennen.
Das kann ein Reel auf Instagram sein – ob einem Social Media nun taugt oder nicht.
Wird auch nur ein einziger Stein dieser Brücke verändert, kann sie einstürzen. Weil sich die Drucklinie verändert. Alles gerät aus dem Gleichgewicht.
In der Denkmalpflege spricht man von Frostsprengung – ein kleiner Riss durch gefrorenes Wasser im Fugenbereich – und zack: Einsturzgefahr.
Auf Sternenkinder übertragen können das verletzende oder unpassende Worte und Gesten sein. Besonders dann, wenn der Tod unserer Kinder die Brücke ohnehin ins Wanken und Schwanken gebracht hat.
Brücken bauen
Aber selbst dann!
Im schlimmsten Fall wird die Brücke wieder aufgebaut. Das braucht Zeit. Das braucht Kraft. Das kann mit denselben oder ähnlichen Steinen – Mitfühlenden – geschehen. Sie kann aber auch immer wieder, immer stärker, immer widerstandsfähiger aufgebaut werden.
Liebe gewinnt am Ende – weil auch Hass seinen Anfang nur in gekränkter Liebe hat. Mit Unterstützung schaffen wir es.
Es gibt nur einen Grund, warum es zu keiner Brücke kommt, warum eine Brücke einstürzt und die Steine am Boden bleiben:
Verschweigen. Verheimlichen. Verdrängen.
Schweigen und Ignoranz sind die Bausteine von unüberwindbaren und uneinschätzbaren Schluchten. Schluchten trennen. Schluchten traumatisieren. Schluchten täuschen. Natürlich gibt’s auch für jede Schlucht eine Lösung 😉
Die Brücke.
Sei eine.
Deine eigene – und der Stein in anderen Brücken.
Einen ganzen Steinbruch schenken
Mit der Sternenkindermappe möchte ich einen Schubkarren – nein, einen ganzen Steinbruch an Möglichkeiten liefern, wie Eltern selbst – und wie Mitfühlende – einander Brücke sein können. Mit ganz viel Unterstützung von anderen Eltern von Sternenkindern und Sternenkinder-Initiativen – also: Mitfühlenden.
Die Druckfahne der Sternenkindermappe Kompaktversion steht. Nach dem Korrektorat folgt der Buchsatz für das Hauptbuch.
Ich bin sehr aufgeregt – und möchte euch allen mit diesem Brückenbeitrag nicht nur den Zwischenstand durchgeben, sondern zwischendurch mal sagen:
Danke.
Was sich hinter der Idee für diese Skizze als Titelbild verbirgt?
Die älteste erhaltene Steinbogenbrücke Chinas ist die Zhaozhou-Brücke. Ihr Name bedeutet: „Brücke zur Erleichterung“ – könnte nicht besser passen, deshalb und wegen China habe ich diese Brücke gewählt. Die Smileys dürften selbst erklärend sein.
Du bist herzlich eingeladen deinen Blickwinkel zu teilen
Was sind deine Wendepunkte im Leben? Wer sind deine Brücken?
Schreibe mir gerne an tanja@sternenkinder.org
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