Was half mir in der Trauer.


Artikel im Memento 2023

Was hilft mir in der Trauer? Normalität.

Normal ist brutal. Wie soll dieser Schock, die Taubheit, dieser Zustand der Leere, als wäre mein Körper nur eine Hülle, normal erklärt werden können? Erklären kann ich es bis heute nicht. Die Trauer ist ein Teil von mir, aber mir hat es geholfen, sie als Gast willkommen zu heißen, ihr etwas anzubieten, sie kennenzulernen und sie als Begleitung auf dem weiteren Lebensweg mit Trauerglück anzunehmen. Dafür habe ich viele ahnungslose Meinungen auf den Kopf stellen müssen.

 

Vor meinen Sternenkindern interessierte ich mich nie für Tattoos. Ich dachte, ich könnte mich nicht entscheiden, welches Motiv ich wählen sollte. Es müsste eines mit Bedeutung sein, wenn es lebenslang in mir ist. Woher sollte ich aber wissen, was mir in 10, 20, 30 Jahren noch ein Tattoo wert wäre? Bei meinem ersten Sternenkind, meiner Tochter, war meine größte Angst, dass ich ihren Wert und meine Liebe in 10, 20, 30 Jahren nicht mehr so intensiv spüren würde.

 

Neben dieser Angst war die größte Herausforderung in der Trauer um meine Sternenkinder, dass ich mich gefühlt gar nicht um meine Trauer kümmern konnte. Zwischen der Trauer und mir stand der Zeitgeist und Unwissenheit. Beide nahmen viel Raum ein und vernebelten mir die Trauer. Mein Kopf und mein Bauch wussten, dass sie da war, aber mein Herz konnte sie nicht greifen. Was mir Sicht verschafft hat, war Normalität. Zahlen, Worte und Vertrauen verscheuchten den Nebel. Sie halfen mir nicht nur die Trauer zu sehen, sondern mit Trauerglück zu leben.

 

Normalität. Zahlen. Sternenkinder, der Abschied vom eigenen Kind während der Schwangerschaft oder im Jahr danach, sind normal. Die Statistiken sprechen von jedem 10. Elternpaar, jedem 6., jedem 4., jedem 3. und medizinisches Personal spricht durchschnittlich von jedem 2. Elternpaar, sprich 50 %.

 

Es kommt darauf, welche Abschiede in der Statistik gezählt werden. Abgänge, Ausschabungen, Fehlgeburten, Abtreibungen, Schwangerschaftsabbrüche oder Totgeburten? Und es gibt viele weitere Prozess- oder Zustandsbeschreibungen für den Abschied von Menschen, von Kindern.

 

Bei den Statistiken kommt es auch darauf an, ob die Abschiede überhaupt dokumentiert werden können. Viele Sternenkindern verabschieden sich, insbesondere in den ersten drei Monaten, durch Blutungen. In diesem Fall wird über sie oft nur im Privaten gesprochen. Außerdem werden Fehlgeburten nicht staatlich und bundesweit erfasst, daher die unterschiedlichen Zahlen.

 

Normalität. Zahlen. Worte. Ich hatte gesellschaftlich gesehen eine Fehlgeburt und eine Abtreibung, medizinisch gesehen zwei Schwangerschaftsabbrüche und meiner Erfahrung und Erinnerung nach, zwei Totgeburten – sofern wir bei Prozessbeschreibungen bleiben. Ich brauchte die Prozessbeschreibungen am Anfang meiner Trauer, weil ich zu begreifen versuchte, was mir überhaupt passiert war.

 

Erst nachdem ich mich in Zeiten tiefer Trauer informiert hatte, verstand ich, um was ‚es‘ ging. Was hatte geblutet, wurde ausgeschabt oder abgetrieben? Was war/hat einen Fehler bzw. ist fehlend oder tot? Was löst denn die mentalen, seelischen Gefühle von Verantwortung und Liebe aus? Es ging um einen menschlichen Zellhaufen, auch Kind genannt. Jedes menschliche Lebewesen ist das Kind von Eltern.

 

Und ich begriff, dass ‚es‘, der Tod, nicht mir bzw. uns, sondern meinem Kind passiert ist. Daraufhin brauchte ich eine Bezeichnung für mein Kind, meine Tochter. Und ein Jahr später auch für meinen Sohn, für meine beiden Kinder. Natürlich sind es Kinder, aber für das Umfeld und mich ist die Bezeichnung Kind sinnvollerweise mit lebenden Kindern besetzt.

 

Es wäre sinnfrei den Zustand des Kindes immer hinzuzufügen. Sonst müsste ich sagen: „Ich habe zwei tote Kinder und zwei lebende Kinder“. Bei meinem Ehemann spreche ich auch nicht von dem Prozess, „von dem Mann, den ich geheiratet habe.“ Oder vom Zustand „ein ausgewachsener, gesunder, Zellhaufen mit den perfektesten Vater-, Papa- und Mann fürs Leben-Eigenschaften.“, sondern schlicht von meinem Ehemann. Solch eine treffende Bezeichnung für meine toten Kinder sollte mir in der Trauer ungemein helfen.

 

Im Krankenhaus erfuhr ich von der Bezeichnung Sternenkinder. Auf mich wirkte es wie eine Verniedlichung oder etwas für Gläubige im religiösen Sinne. Weder das eine noch das andere sprach mich an. Ich suchte, studierte, recherchierte fast schon manisch alles, was ich rund um meine Erfahrung in Philosophie und Naturwissenschaft begreifen konnte. Und ich erfuhr, wie wir physikalisch belegen können, dass alle weltlichen Lebewesen in ein paar Milliönchen von Jahren wieder zu Sternen werden. Kein Atom, keine Energie, geht je verloren. Naturgesetz. Wir als Menschen waren Sterne und werden wieder zu Sternen. So hatte ich die Bezeichnung für meine Kinder gefunden. Sternenkinder.

 

Warum schreibe ich von so vielen Zahlen, Daten, Fakten, Definitionen, Begrifflichkeiten? Vielleicht, weil ich eine bayerische Beamtin und Lehrkraft für Wirtschaft, Recht und Ethik bin? Vielleicht, weil ich ein Kopfmensch bin, aber ganz sicher, weil es mir in der Trauer geholfen hat, die Unwissenheit zu bezwingen, indem ich Zahlen und Worte dafür fand, was überhaupt passiert ist.

 

Normalität. Zahlen. Worte. Dialog. In unser westlichen Gesellschaft und Kultur, in unserem Zeitgeist reden wir nicht über den Tod und erst recht nicht über den Frühen – was dazu führte, dass ich die Trauer nicht verstanden habe, sie nicht fühlen konnte, den Kopf nicht ausschalten konnte.

 

Dank der Recherche konnte ich endlich reden und trauern und trauern und reden. Der Dialog war und ist so hilfreich, weil ich mich selber begreifen, strukturieren und endlich fühlen konnte. Ich habe gemeinsam, im Dialog, Erkenntnisse über mich, mein bisheriges Leben, meine bisherigen Entscheidungen, Meinungen gewinnen können, die ich ohne Dialog, nicht, oder spät, oder schwer herausgefunden hätte.

 

Ich redete mit allen, ob sie es hören wollten oder nicht. Und zwar nicht nur mit Betroffenen, Müttern oder Frauen, sondern auch mit Kindern, Vätern, Männer, mit jeglichen Personen, weil ich erst durch die verschiedensten Blickwinkel das Leben und den Abschied von und mit meinen Kindern würdigen konnte.

 

Dem Abschied und der Trauer ist das Alter und der Zustand von Kindern egal, ob 6. Schwangerschaftswoche, 6. Schwangerschaftsmonat oder 6. Monat nach Geburt. Und auch der Grund für den Abschied ist der Trauer und der Abwesenheit egal, ob Fehlgeburt, Abbruch oder Totgeburt.

 

Was zählt, ist der Wert eines jeden Menschen, die Gefühle, die er auslöst und die Wirkung, den Einfluss, den er auf das Leben vom ersten Tag hat. Daher muss niemand die Erfahrung gemacht haben und kann trotzdem darüber reden. Wir haben sonst auch zu vielem eine Meinung und verteilen sie, als hätten wir genug von ihr, warum nicht auch beim frühsten Tod vom ersten Lebenstag an?

 

Normalität. Zahlen. Worte. Dialog. Vertrauen. Erst die Zeit konnte mir beweisen, dass die Liebe zu meinen Sternenkindern nicht weniger wird. Vielleicht wurde sie anders. Mit der Zeit werden mir meine Sternenkinder immer mehr bewusst. Wenn ich den Geschwisterchen zuschaue, wie sie das erste Mal aus der Flasche trinken, den ersten Schritt gehen oder sich in den Kindergarten aufmachen … . Mit jedem Schritt, den die Geschwisterchen gehen, wird mir deutlicherer, wobei ich meine Sternenkinder nicht begleiten konnte. Gleichzeitig begreife ich immer mehr, welchen Einfluss meine Sternenkinder auf mein, auf unser Leben haben, weil ich nie so über das Leben, den Tod und den Wert von Menschen nachgedacht hätte.

 

Vor meinen Sternenkindern war ich z. B. relativ konservativ. Verteilte klare und urteilende Meinungen ohne Fragen zu stellen. Dank meiner Sternenkinder begreife ich, wie wir voneinander weder den eigenen Erfahrungsschatz und schon gar nicht die eigenen Antworten erwarten können. Auf so viele Fragen gibt es keine Antworten. Warum braucht es auch eine Antwort?

 

Wichtig sind Wege, wie wir mit der Frage leben können. Wege, die wir trotz Abwesenheit und ohne Antwort gehen. Und auch wenn wir unterschiedliche Wege wählen, verfolgen wir im Herzen das gleiche Ziel.

 

Vor meinen Sternenkindern hätte ich den letzten Satz als Postkartenspruch abgetan. Seit meiner Sternenkinder, begreife ich, wie sich Postkartensprüche leben lassen und wie hilfreich sie sind.

 

Vor meinen Sternenkindern hätte ich keinen Grund für ein Tattoo gesehen. Seit meinen Sternenkindern trage ich das Tattoo für meine Sternenkinder stolz mit mir, gut sichtbar für mich am unteren Arm. Mein Ehemann trägt das gleiche Tattoo. Es sind die Anfangsbuchstaben aller in unserer Familie.

 

Durch Vertrauen, mit Dialog, Worten und Zahlen wurden Sternenkinder für mich normal. Und die Normalität gewährte mir neben der Unwissenheit und dem Zeitgeist Raum. Ich fand meinen Platz und widmete mich der Trauer. Mit all ihren lebenslangen Facetten. Mit zahlreichen Spaziergängen, Natur und Musik lebe ich das Trauerglück.

 

Was half mir in der Trauer also ganz konkret zur Normalität durch Zahlen, Worte, Dialog und Vertrauen?

 

  • Tattoo für Sichtbarkeit. Mit meinem Tattoo sind meine Sternenkinder immer bei mir.

 

  • Sternensteine für (einen) Ort(e). Auf Steinen in der Form von Sternen sind die Namen meiner Kinder eingraviert. Sie liegen nicht nur am Sammelgrab für Sternenkinder, sondern auch am Grab meiner Großeltern, am Grab der Großeltern väterlicherseits, im Garten bei meinen besten Freundinnen unter einer Eiche, versteckt im Gebüsch einer mir wichtigen Kapelle oder hier in unserem aktuellen Zuhause im Wohnzimmer in China.

 

Überall ist es möglich, Familie, Freunde und sich selbst einen Ort für den Besuch zu ermöglichen. Selbst brauche ich heute keinen wörtlichen Ort mehr. Ich weiß, dass die Liebe sich nur verändert, aber nie vergeht. Trotzdem freue ich mich immer auf gemeinsame Spaziergänge an ihre Orte.

 

  • Was tun ‚für sie‘. Fotos, Home-Planetarium, Kuscheltier, Blumen, Kerzen, Strickmützchen, Personenstandkunde, Geburtskarte, Sterbekarte, Blumenwiesepatenschaft, Baum, Kissen, Schlüsselanhänger, für jedes Kind eine Armbanduhr, weil für mich immer eine neue Lebenszeit anbrach … . Das half mir alles und ich wollte noch etwas ‚persönlicheres‘.

 

Bei mir sind das Fotos für ihre Spuren, ihren Einfluss. So viele Entscheidungen in meinem Leben habe ich hinterfragt und sehr gravierende Veränderungen vorgenommen: beruflich, freundschaftlich, persönlich oder einfach `‘nur‘ in Form von Erkenntnissen, Zuversicht, Entspannung, Hoffnung, Kraft und Vertrauen. Bei so vielen gesellschaftspolitischen Ereignissen, Orten, Bildern, Musik, vor allem beim Heranwachsen der Geschwisterchen denke ich an meine Sternenkinder.

 

Dann mache ich ein Foto meiner Füße im Himmel. Als Zeichen für mich, wie ihr Tod, wie ihre Abwesenheit Spuren im Leben hinterlässt. Jedes Jahr will ich eine Collage zum Mondneujahr erstellen. Den Mondkalender finde ich für Sternenkinder passend. Dieses Jahr, 2023, wird die Collage die Silhouette eines Hasen darstellen. Nächstes Jahr, 2024, befinden wir uns im Tierkreiszeichen des Drachen. Tiersymbole finde ich für Kinder passend und weil ich in China wohne, lebe ich auch im Alltag oft nach dem Mondkalender.

 

Ich lade jeden ein, mir Fotos von Füßen im Himmel zu senden, weil Sternenkinder vom ersten Lebenstag an, Spuren im Leben hinterlassen, ob im Herzen, in Gedanken oder im Mitgefühl. Die Fotos stehen für den Dialog über den frühsten Tod ab dem ersten Lebenstag.

 

Am meisten aber half und hilft mir der Dialog für Information und damit Sicherheit. Ich wünsche mir, dass sich niemand mehr fragen muss, um was und warum er trauert, weil Sternenkinder normaler Bestandteil unserer Gesellschaft sind.

 

Daher spreche ich mit jedem über meine Sternenkinder. Höre aber mittlerweile auf, wenn meinem Gegenüber nicht danach ist. Aufdrängen möchte ich meine Erfahrung niemanden, aber das Angebot machen, weil ich es mir gewünscht hätte.

 

Damit es anderen nicht so geht wie mir, damit sie nicht so viele Informationen sammeln und Diskussionen über Fakten führen müssen, schreibe und spreche ich von meiner Erfahrung. Ich führe Interviews und Gespräche in Deutschland, UK, Italien, Simbabwe und China. Weltweit vereint uns der Tod, schon der frühste Tod. Er macht keinen Unterschied, aber wir gehen völlig unterschiedlich mit ihm um.

 

Über meine Recherchen, meine Erfahrung und mein Leben mit Sternenkindern schreibe ich ein Buch sowie einen Blog. Auch auf Instagram schreibe ich darüber und organisiere dort und auf meiner Webseite den #walkofimpact.

 

Für die Fotoaktion können mir alle so viele Fotos ihrer Füße im Himmel senden, wie sie Ideen haben, weil die Spuren, die Sternenkinder auf ihre Eltern und deren Umfeld, vielleicht sogar die Gesellschaft, den Zeitgeist, hinterlassen und der Einfluss, den sie auf unser Leben haben, so vielfältig wie stark sind und ein Leben lang wirken.


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